in too deep

ich bin seit Tage nur im Regen gewesen und erfahre heute, dass mich in Berlin eher noch schlechteres Wetter erwartet. Also sind viele Museen angesagt.

Eine sehr schöne junge Frau, mein vorletzter Termin, zeigt mir einen Lymphknoten im seitlichen Halsbereich, hört mein deutliches Atemanhalten, als ich das harte, schmerzlose und unbewegliche Ding ertaste und mein Gesicht gefriert, und sie weint sofort los, so heftig und so hemmungslos, dass ich kaum noch sprechen kann, an ihren Ehemann denke und ihre beiden halbwüchsigen Kinder und an die beiden Helferinnen, die mich Ehrfurcht vor harten Lymphknoten gelehrt haben, bevor sie jung und schön gestorben sind an ihren bösartigen Tumoren; ich hole meinen Kollegen, um den Befund zu verifizieren, er nickt still und wir hängen uns an die Telefone, um für die junge Frau, die eigentlich schon längst auf dem Weg ans Meer sein wollte, noch einen Spezialisten mit geeignetem Ultraschallgerät zu finden, und wir schaffen das, weil wir Ärzte sind und immer einen Termin, beim Frisör und beim Arzt, sofort kriegen, seriöse Freunde haben; und zwei Stunden später kommt die Entwarnung: der Knoten ist echoarm und auch sonst spricht nichts für einen Tumor bzw. einen konsekutiven Lymphknotenbefall, und die Frau ist ruhig und dankbar und ich bin es auch und so erschöpft, dass ich nach innen weine, an die Toten denke und die, die ich liebe, die ich immer weiter lieben werde, die ich mir nicht aus dem Herzen ziehen kann und will, still, weil es zu meinem Schicksal gehört so und das die Seite ist, die nur wenige kennen, während ich lachend und ausgelassen auf den kleinen Vulkanen tanze, die in meinem Leben stehen, verraucht, verrucht, verlockend, verrückt; Imaginationen und Realitäten, ein Spiel, ein Rausch, damit ich die Frage nicht höre, wer meine Hand halten wird, wenn ich den Preis bezahlen muss dafür, dass plötzlich etwas in mir echoreich wird.

zurück zum See

das Wetter wird dann später doch besser, als erwartet, ich beschließe, wieder zum See zu fahren und den zu umrunden, vorbei am halb aufgebauten Riesenrad, aber es wird eine schwere Tour, weil all die bekannten Abkürzungen plötzlich verschlossen sind; nirgendwo Hinweise, keine Warnungen, der Weg endet einfach.
Und meine exakt eingeteilten Kraftreserven sind schlagartig verbraucht, als ich begreife, dass ich nun einige Kilometer mehr zu machen habe und fluchend weitergehe, als ob ich die Füße hinter mir her schleife.
Endlich eine dieser Luxus-Restaurant-Ritterburgen, endlich ein Platz in der Sonne, endlich Getränke zum Schlucken der Miniration, die ich immer am Mann trage.
Neben den kleinen Biergartenparzellen für staubige Wandere stehen Oldtimer und Buffets und kleine Mädchen laufen spielend über den Hof; zwei Hochzeiten werden gefeiert, und eine Braut sieht aus, wie vom Himmel gefallen, klein und zart und schlank und wunderschön und fröhlich; der Wind treibt mir eine Wolke potenter Allergene auf die Schleimhäute und plötzlich sind meine Augen nass und ich sende eine kleine Bitte ins Nirgendwo, dass dieses wunderschöne Mädchen niemals getrennt sein möge von dem ebenso schönen Mann neben ihr, mit dem sie sich verbindet heute, möge sie nie verbittert weinen, gescheitert an Ehe-Experimenten, und ich habe eine Vision, die ich wohl irgendwann aus Italien mitgebracht habe, eine Vision, in der ein solches Paar den langen Weg erfolgreich gegangen ist, faltig und korpulenter geworden und etwas humpelnd beim langsamen Gang, und jeder sieht im anderen den, der er und sie waren vor 50 Jahren.
Okay: offenbar Unterzuckerung.

Ich verschlinge Kuchen und Getränk und suche den Wagen, bin bald wieder im Tal und finde einen Tisch in einem neuen türkischen Restaurant, bestelle eine große Platte Fleisch und Reis und Salat und Glas um Glas türkischen Tee, heiß und süß und in jede Körperzelle einsickernd, bis ich mich wieder bewegen kann, Muslimas mit Kopftuch und ausgelatschten Schuhen sitzend mit 3 bis 5 Kindern am Tisch um mich herum, die männlichen Familienoberhäupter blicken ins Leere und halten ihre kleinen Töchter bei sich, es gibt kein Schweinefleisch, es gibt keinen Alkohol; finde aber beim verstohlenen Umherblicken junge Türkinnen der dritten Generation mit schrillen Frisuren und roten Strähnen und Schminke wie von der Hauswand, etwas frech wirkend, sehr ansehnlich.

Später schlafe ich fast ein unter der heißen Dusche, liege flach und kaum bekleidet in der Abendwärme; es ist sehr spät geworden.
Ich denke an Texte, die ich gelesen habe, ich denke an Worte, die ich gesagt habe, zu den Rückenschmerzen gesellt sich ein sanfte Traurigkeit, und ich warte, bis ich zu Blei werde, nichts mehr abwehren will, nicht mehr kämpfen will, auch nicht dagegen zu wissen warum es ist, wie es ist; mein ganzer Körper schreit nach einer zarten Berührung, stattdessen falle ich in Tiefschlaf, als mein Gesicht das Kissen berührt.

Heute war ich beim Spanier in der Mittagspause, habe bei Tchibo eine funktionierende Bluetooth-Fernbedienung zum Auslösen der iPhone-Kamera gekauft (ich KANN an nichts vorbeigehen, was rote und blaue Dioden hat!) und eine kreischende, hysterische Ziege, die sich mit einem alten Sack, der sich angeblich auf ihren Schoß setzen wollte, rotzig stritt und dabei so laut und ganz offenbar so begeistert von ihrem Kampf um die Rechte der Frau in Kaffeebars war, dass ich mich selbst kaum zurückhalten konnte, sowohl sie, als auch den alten Sack mit einer Packung Gartenschlauch, die ebenfalls im Angebot auslag, zu meucheln; bin gegangen, als zwei dieser in den Shoppingmalls herumstehenden Sicherheitsfachkräfte erschienen, diese Leute, die immer Schwabbel oberhalb des Gürtels haben, an dem sie schön nebeneinander aufgereiht Tränengas, eine MagLite, ein Schlagstöckchen und Handfesseln tragen und vor allem ein Funkgerät, mit dem sie sich alle drei Minuten gegenseitig anpiepsen („Charlie 1 ruft Charlie 2 – hier alles rodscher!“), um ihre Existenz zu rechtfertigen und abends vor der Schrankwand eine Palette Hansa wegputzen, während sie ihrer Frau, die gerade die neuen Gel-Nagelverlängerungen anklebt, für die man eigentlich einen Waffenschein bräuchte, erzählen, wie gefährlich ihr Job ist.

Und die Liebe wurde geboren

schon länger gibt es einen Text von Katharina, der nicht nur eine Art Genesis und von seltener, vielschichtiger und berührender Schönheit ist, sondern sich auf eine Weise in den Kontext von „Der Mann im See“ einfügt, die uns beiden gestern auffiel, dem Leser unserer Geschichte möglicherweise erst nach und nach einleuchten wird; dankenswerter Weise konnte Katharina meinem Wunsch entgegenkommen und „Der rote Drachen“ als Interludium veröffentlichen.

Das Bersten der Wolken

langsam ist die Wärme in leicht schwüle Hitze übergegangen hier, es lohnt sich, ab und zu einen Umweg zu machen und in der Sonne sitzend sich umzuschauen, wie in dieser Saison das kokette Spiel wieder beginnt, wie die älteren, bereits geübten Frauen den Blicken, die sie mit ihren raffinierten Outfits auf sich ziehen, nicht nur nicht ausweichen, sondern sie erwidern, mal gnädig, mal souverän, als wollten sie sagen: komm‘ nur und lass‘ uns die alten Tänze wieder aufnehmen, sei ein Mann, sei mein Mann, hab‘ Mut und lass‘ mich Frau sein, mit Dir, in einem verwilderten Gartenstück an den Bahngleisen, in einem nachtkühlen Altbauzimmer, lass‘ die Wolken bersten und so jung sein, wie wir geblieben sind, ich brauche das zurück, was so lange brach gelegen hat, ich will wieder blühen und glühen.

Und die noch etwas unbeholfenen jungen Frauen, deren Herzen und Gefühle nun grüne Triebe sprießen lassen, zupfen leicht verschämt ihre locker sitzenden Oberteile zurecht, üben das Haarewerfen und das leichte Schwingen der Hüften, wechseln manchmal die flachen Treter gegen dezente High Heels und achten vorsichtig darauf, wer wie wo wann guckt, schürzen vielleicht die Unterlippe und, als ob das nicht schon für einen Anfall von Wahnsinn reichen würde, schlecken dabei bedächtig ein Eis und schauen auf ein Handydisplay, in ein Schaufenster oder in die feuchtwarme Luft neben mir, verunsichert durch diese seltsamen Empfindungen, zugehörig sein zu wollen und zugleich Angst zu haben davor, im dunklen See ihrer Wünsche zu ertrinken, befangen und gefangen zu sein, in Ketten gelegt, statt in Sanftheit gehalten – und mit einem leisen Seufzen sterbe ich auf der Stelle, zufrieden damit, als Mann gelebt zu haben.

Manchmal, when night is falling, sehe ich dein Gesicht und das Glitzern deiner Augen, höre deine Stimme, die in Liebe zu mir spricht, fühle dich bei mir, neben mir, in mir und versuche, das Vermissen lang und länger auszuhalten, bis es zu stark wird und ich mich rasch daran erinnere, dass du sicher eine Fata Morgana warst, denn in Realität hätte ich dich nie gefunden, wärst du nie da gewesen, in Realität gibt es solche Wunder für die meisten Menschen wohl nie und wenn doch, dann nur ein einziges Mal im Leben und es fordert alles, es ist aber auch alles wert.

Und ich denke, es gibt dich nirgendwo so, wie ich dich kannte, ich denke und spreche zu mir: Du, es war alles in DIR, DU bist das Fühlen und DU bist die Quelle der Sehnsucht, aber auch ihre Erfüllung.
Und ich versuche mit mir selbst zu verschmelzen, denn das ist der einzige Weg, der mir noch bleibt, um im wahrsten Wortsinn zu mir zu kommen.

Es gibt sicher viele Arten der Liebe und Arten zu lieben – und es gibt eine, von der ich ungläubig gehört hatte, bei der es keine Fragen mehr gibt, die kein Wissen mehr braucht, die vielmehr sicher fühlt, was nicht in Worte zu fassen ist – und die habe ich erlebt. Ich habe erlebt, Gedanken zu denken, die ich nie zuvor denken wollte und konnte.
Daher weiß ich, dass ich gebenedeit bin unter den Männern, ein Einzelner, der ein Geschenk vom Schicksal bekommen hat.
Dich.

La vierge de fer

morgens, gegen vier Uhr, wenn ich kurz aufwache, trinke ich einen eiskalten Schluck und beginne mich daran zu erinnern, was Traum und was Realität war, schaue den Geistern nach, die langsam und leise mein Zimmer verlassen – wieder eine Nacht überstanden, wieder standgehalten.

Ach ja, heute ist Termin zur Abnahme der menschlichen und baulichen Veränderungen, die ich umgesetzt, durchgesetzt habe, also sind kleine Variationen des Outfits vorzunehmen, denn es handelt sich um hohen Damenbesuch.
Schon gestern hatte ich die mit ziemlicher Regelmäßigkeit erfolgenden Ersatzbeschaffungen von underwear und Schuhen erledigt; einige Paar Calida New Boxer Shorts, schwarz, mit feinstem Nadelstreifen und einen trittfesten schwarzen Schuh im Derby-Schnitt ohne Firlefanz, gut geeignet, um in Berlin die Füße zu schonen.
Noch ein Hauch Serge Lutens („La vierge de fer“)in die Fossa jugularis und dazu ein Piqué-Hemd (schwarz, what else) – und die Vertreterin des Ressorts (ganz in dezent orange und roten Tönen, ich denke: Prada und Mandarina Duck) sagt spontan, dass sie mich nie so glücklich erlebt habe und wird selbst rot, als ich sie anstrahle.
Na also: geht doch.