Fünf Minuten

… und noch während du – fast stolz darauf, derart viel Ahnung und persönliche Erfahrung auf diesem Gebiet zu haben und mit dem kaum zu überhörenden Unterton einer Dozentin, die über die fassungslose Begriffsstutzigkeit eines ihrer Lieblingsschüler empört ist – mir die Feinheiten des aktuellen deutschen Scheidungsrechtes erläuterst, schließlich sogar anhand einer Internetrecherche beweist, wie Recht du hast, wird mir klar, was so markant ist, was so typisch mir scheint für unsere Zeit und was zu begreifen ich mich so endlos lange gewehrt habe, um in dem naiven Schneckenhaus meines Seins, gehüllt in einen emotionalen Pseudo-Silk-Kimono, verbleiben zu können: du verstehst wesentlich mehr davon, Beziehungen aufzulösen, mit Experimenten zu belasten, ganze Familien zu zerbrechen, als davon, Beziehungen aufzunehmen, aufzubauen und fortzuführen.
Mir soll’s im Grunde egal sein, denn ich bin in keinster Weise involviert.
Später, als du, von mitternachtsblauer, durchbrochener Seide kaum verhüllt, von deiner Karriere als Model noch ganz Hardbody, in der durch die Jalousie glitzernden Helligkeit der Großstadt, wie vom Mond auf mein Bett gegossen, daliegst, wird mir das klar, in welch naiver Idee ich mich in der Überhöhung des Begriffes „Ehe“ versichert und gefangen gefühlt hatte: in Wahrheit gilt ganz schlicht: vorausgesetzt, keiner der beiden Beteiligten macht Theater, kann hier und heute eine Ehe tatsächlich innerhalb von 5 Minuten geschieden werden; selbst Begriffe wie „Trennungsjahr“ sind ein Deckmäntelchen, jederzeit als bereits absolviert zu deklarieren, eine Farce.
Ich anerkenne das ganz ohne Bewertung.
Und mir wird klar, dass es demzufolge um ein Vielfaches länger dauern würde, ein dir ausgefallenes Haar oder ein versehentlich liegengebliebenes Schmuckstück aus meiner Wohnung zu schaffen, als mich (der ich aber ohnehin nicht verheiratet bin oder jemals war) scheiden zu lassen.
Und mir wird auch klar, dass quer durch die Kulturen und quer durch die Meinungen und Wünsche des einen oder anderen wirklich jeder Moment, der auf geschlechtlichen Faktoren zwischen Frau und Mann beruht, bar jeder einschätzbaren Begründung, Glaubwürdigkeit, Sinnhaftigkeit, Bedeutung , Bewertbarkeit, Schuld und Strafwürdigkeit ist; mag sein, die Begegnung existiert und mag auch sein, sie dient hier und da einem hohen Ziel, wie dem Erhalt der Art, mag sein, sie ist schillernd und hysterisch wie eine komische Oper – aber mehr ist sie nicht notwendigerweise.
Der Ersatz der individuellen Entscheidung durch kulturell oder (noch schlimmer) gesetzlich sanktionierte Regeln wird noch kurz gestreift, wie es sich bei jedem Gespräch unter Intellektuellen gehört, die vom Licht der eigenen Erkenntnis so geblendet sind, dass sie sich vorsichtshalber noch Kreuzungen und Auswege aus der Ausweglosigkeit offenhalten möchten; aber da fallen mir schon die Augen zu und als inneres Bild platzen die ansteigenden Kurven der Scheidungsraten in die Schwärze meines dummen Hirns. Da kommt ganz schön was zusammen, wenn ich das alles in 5-Minuten-Abschnitte zerlege.
Ich lege meine Hand unter der kühlen Seide auf deine Brust und lächle leise, ahnend, dass das Thema mich noch einige Zeit beschäftigen wird.
Es gibt – etwas überpointiert zusammengefasst – in keiner einzigen Hinsicht mehr positive oder negative Konsequenzen für dieses oder jenes oder ganz anderes Beziehungsverhalten; für niemand, auch nicht für mich.
Und die längst vollzogene Konsequenz, nicht nur moralische Begriffe und Schuld und Sühne und langatmige Verfahren ganz aus dem Faktum ‚rauszuhalten, dass Menschen möglicherweise als gesellschaftsbedürftige Wesen geboren werden, die – man kann ja nicht das ganze Jahr schunkeln – von hilfsbereiten Hormonen und der Angst vor dem Alleinsein gesteuert ab und zu gerne mal heiraten, aber sich selten klar sind, dass der Ewigkeitsschwur unter Umständen 60 Jahre lustloser Einsamkeit zu zweit beinhalten könnte und die Tatsache, dass die 5-Minuten-Scheidung die gegenseitige Ausbeutung verdrängt hat, könnte nur noch in subtilem Zynismus verdeutlicht werden durch die Einführung der Ehe auf Zeit, die – sagen wir mal: spätestens alle 6 Jahre; dann ist mindestens das erste Kind aus dem Gröbsten ‚raus – durch positive Willenserklärung verlängert werden kann.