Der Mann am See

in wenigen Wochen werde ich für einige Zeit weit fahren; über die Alpen, durch die Schweiz, weiter nach Italien, an einen großen See, an dem ich vor sehr langer Zeit schon war, als dort alles düster, kalt und verregnet war; und ich werde hängen bleiben innerlich, zwischen den Erinnerungen an damals – und einer Zukunft, die ungewiss ist, obwohl ich deiner bin.
Erinnerungen an Tränen und Szenen und Flucht und Wiederkehr und Blitzgewitter über den Bergen, gespiegelt im großen Wasser und in deinen dunklen Augen in der Nacht, keuchenden Atem, deine fast wütende, anklammernde Umarmung, ein „Jein“, eingebrannt in mein Hirn; du hast die Geister gesehen, die auf den Wellen lagen, du hast gegen sie angeschrien und warst fort, als du gemerkt hast, dass ich einer von ihnen war.
Die rasende Fahrt nachts um vier Uhr mit dem zum Cabrio verwandelten Volkswagen-Porsche, giftig grün-gelb, wie die Lichtbänder im Tunnel, Ascona menschenleer und mit verregnetem Pflaster, danach die engen, gewundenen Straßen, Ort für Ort, und ich war müde zum Erbrechen nach 14 Stunden Fahrt, kettenrauchend, ohne Nahrung und Espresso und bereit, so lange weiter zu fahren, bis das Röhren der defekten Wärmetauscher am Wagen plötzlich verstummt wäre; ich war so jung und high und exaltiert und die Melancholie war mein zu Hause, wenn ich Ruhe brauchte, die Ekstase mein pochender Dauerzustand, wenn ich unterwegs war, Viertakter-Leben, Super bleihaltig, das helle Lachen der Italienerinnen, das wohlige Anfluten des Pastis und des Weines, die Ahnung, dass ich für fünf Minuten Glück mit Stunden der Trauer würde bezahlen müssen; Kredit beim Schicksal aufgenommen und weitergemacht.

Ich werde tags schlafen und nachts schwimmen, weit weg sein, im Dunkel verschwunden, werde tauchen, obwohl ich es hasse, und mich vielleicht ergeben, mich im Stickstoffrausch in der Tiefe in ihre Arme treiben lassen – ich weiß, sie wartet unten zwischen den Steinbrocken auf mich, lockend und warnend; sie wartet überall auf mich und lässt sich nicht finden.

… Ein bisschen alt geworden steht eine Frau im Neonlicht
Nur ihr Mund hält längst schon nicht mehr
Was ihr Make-Up noch verspricht …

… Ein alter Mann steht einsam
Vor der Reklame einer Bank
Zigarettenwolken fliegen
Seine Frau ist meistens krank …

… Diskotheken spucken Farben und Töne in die Nacht
Lugano legt sich schlafen
Nur die Banken halten Wacht …

Im Tessin
Das sich um sich selber dreht
Im Tessin
Wo jeder sich zuende lebt
Mit den Träumen und der Erinnerung
An einen längst vergangenen Luis-Trenker-Film…

(Thomas Kagermann, Auf der Jagd nach der Zukunft, „Im Tessin“)