carpe diem

… „die Sterbekasse des Konzerns informiert“ … lese ich, immer für absurde Ausführungen mit ernstem Hintergrund zu haben, gerade online, und ich denke dabei über die Geschichte nach, die ich gestern spätabends noch von der frisch aus Istanbul zurückgekehrten Susanne1 gehört habe.

Da war die Rede von einer engen Freundin, mit der sie all die Jahre in freundschaftlichem Kontakt die Highs und Lows durchlebt hat, eine als Managerin bei einem sehr namhaften Konzern tätige, inzwischen 43jährige, freundliche und schöne Frau, in fester Beziehung liiert mit einem 49jährigen Biologen, der, ebenfalls in höherer Position tätig, auch wenig Freizeit zu verplempern hatte, eine liebevolle Verbindung mit einer gerade 5jährigen Tochter; wenn man so will, um es griffig zu sagen: Young-Urban-Professionals mit der Liebe zwischen sich und zum gemeinsamen Kind, niemand leidet Hunger, niemand ist krank an Kopf oder Körper, Teamspieler mit Grips und allen Tools, um sich und ihre Wünsche zu verwirklichen, die ausgelastet genug sind, um ihr Leben nicht mit Verhältnissen, windigen Spekulationen und der Suche nach kompliziertem Unglück zu belasten.

Und man bricht auf zur Finca auf Mallorca, vielleicht hat man sogar die Smart-Phones in den Flight-Modus versetzt und Ruhe bekommen, vielleicht liegt sie, duftend nach Frau und teurem Parfüm, wieder ohne Termin-Uhr im Nacken, in seinen Armen, vielleicht schauen sich beide im Halbdunkel einiger Kerzen liebevoll in die Augen und schlafen später Arm in Arm ein, während draußen Grillen zirpen und der Grill noch ausknistert.

Vielleicht denken sie, wie schön und rund ihre Welt ist und wie beruhigend und erregend ihre Liebe.

Um 4:30 Uhr hört sie ihn noch kurz röcheln, und dann ist er tot.

Der frühe Morgen ist die typische Zeit für einen Herzinfarkt, so kurz vor Tagesanbruch trifft einen der Schlag, und dann liegt er da, ein langsam erkaltender Körper, schwer, blass und nicht schön anzufassen, sein Leben ist beendet, und wenn es etwas gibt, was danach kommen könnte, ist er längst weit auf dem Weg und das Schreien und Flehen von Frau und Kind kann ihn nicht zurück bringen.

Die Behörden ordnen eine Obduktion an, denn nicht nur der Staatsanwalt will wissen, ob Fremdverschulden im Spiel ist, auch die Heimat und die tausend ratlosen Fragen der Verwandten und Versicherungen stehen im Raum, diesem Raum, dessen Vakuum die plötzlich Witwe gewordene Frau neben all den anderen Maßnahmen füllen muss, und so werden sich Fachleute dem Leichnam, der sich wie starrer, kalter Schinken anfühlt, widmen und schneiden und schauen und wiegen und vermessen. Damit alles seine Ordnung hat im Chaos der Welt dieser Frau.

Irgendwann wird das erste Entsetzen vorüber sein; dann beginnt es eigentlich erst. All die neuen Attribute: in erster Ehe geschieden, in zweiter Bindung Witwe geworden, die Trauerarbeit in einer Therapie absolvierend, 20 akademische Stunden, um mit einem Menschen zu sprechen, der wenigstens älter ist, als ihr Kind, vollzeitbeschäftigte Alleinerziehende, ein Kind mit nächtlichen Angstanfällen, ohne Antwort auf die vielen Fragen, wann der Vater denn nun wieder komme, Nacht für Nacht allein mit den tränenerstickten, geflüsterten Sätzen, auf die niemand mehr antwortet, belastet bis zum Kollaps und zum Funktionieren gezwungen.

Ich versuche mir vorzustellen, wie das weitergehen könnte, ohne das seltene Glück des Glücks, realistisch. In spätestens einigen Jahren, wenn ihr Kind aus dem Gröbsten heraus ist, vielleicht aber schon vorher, denn keine Frau lebt vom Brot allein und niemand wird jünger, wird diese tiefe Sehnsucht nach Geborgenheit und Liebe diese Frau zu einem fast trotzigen inneren Aufbäumen bringen: das soll alles gewesen sein? Ist das Leben, diese erzwungene Reduktion auf Versorgerin und Geschlechtslosigkeit? Für jeden Kaffee mit Freundinnen einen Babysitter organisieren zu müssen, bei jedem Klingeln des töchterlichen Handys Alarmglocken läuten zu hören? Warum kann sie sich nicht als selbstbewusste freie Frau fühlen und so handeln? Ist nicht jeder verpennte One-Night-Stand, den die Tochter aus dem Bad kommen sieht, ein Puzzlestück in deren späterer Neurose? Und woher kommt der schale Geschmack in ihrem Mund, als sie merkt, dass das Niveau ihrer Short-Time-Companions mehr und mehr zu wünschen übrig lässt? Dass da Typen sind, die instinktiv spüren, dass selbst die Bemühtheit um eine freundliche Geste unnötig ist, Zeitgeist-Schwätzer, emotionale Ausbeuter, heute hier und morgen gestern, keine Lust auf Engagement, nicht mal Lust auf den versprochenen Anruf? Der Knoten in ihrem Magen.

Kein Schiff wird kommen.

Ihr Leben wird Arbeit bis zum Umfallen, ein paar Fotos und ein Grabstein und ein schwarzer Mantel, der ihr zu klein geworden ist. Die paar zaghaften Schritte auf Kontaktplattformen zeigen ihr, dass es da viele unglückliche Gescheiterte gibt, aber kein gescheites Glück; verheiratete Männer, die einen Zusatzhafen inklusive Frühstück an einem weiteren Ort suchen, den sie bei ihrer nächsten Tour durch das Land abklappern können; Single-Feten, Stadtfeste, wohlmeinende Freunde, nichts; Lügen, die jeden Balken gebogen haben. „Wenn ich ein Kind wollte, würde ich mir selbst eines machen. Wenn ich mich binden wollte, der Mann im Hause sein wollte, könnte ich gleich zu Hause bleiben“.
Wer einen Prinzen sucht, muss viele Frösche küssen.
Sie sitzt am kurzen Hebel, sie hat die Narben auf der Seele, sie hat ihr Kind, sie hat ihre Sehnsucht; vielleicht reicht es für ein Patchwork-Arrangement. Wem beim Träumen Tränen aus den Augenwinkeln laufen, der kämpft irgendwann nicht mehr um ein großes Glück.

Und ich möchte sie in den Arm nehmen und halten, zart und sanft und fest und fordernd, bis sie im Schlaf wieder zu sich kommt, bis sie aufersteht als Frau. Möchte wiederkommen, bleiben, allem einen Sinn geben. Nicht nur ihrem Leben.

Ich konnte dich nicht retten, ich kann dich nicht retten. Aber vielleicht kommst du zurück, manchmal korrigiert das Schicksal seine Fehler, kommst wieder. Vielleicht findest du mich noch, wo du mich zurück gelassen hast. Nur soviel: diesmal musst du bleiben, diesmal darfst du nicht wieder gehen. Noch einmal halte ich das nicht aus.