Her

noch in der Nacht gestern, fast verrückt vor Müdigkeit und so etwas wie Überraschung über diese ganz ungeplante Flucht aus dem fragilen Schutz eines Zeltes, in dem ich ein paar Tage geradezu selbstbestrafend unbequem neben der Frau gelegen habe, mit der ich ca. fünf Jahre eine Fernbeziehung geführt habe, dieser Frau, die alles Geschehen in Zeitleisten und Dimensionen pressen muss, nie hingebungsvoll spontan sein kann, die das Verhältnis der Teigdicke eines Kuchens zur Dicke der Belegung des Kuchens setzen muss, nur um zu erforschen, ob die Investition in den Kuchen und die Arbeit des Kauens lohnend sein wird, der ich inzwischen unterstelle, dass sie vor lauter Zeitleisten und Teigdickenberechnungen noch nie erlebt hat, wie ein verdammter Kuchen schmeckt, habe ich mir den Film „Her“ gekauft und soeben schlaftrunken angeschaut, und nun muss ich erstens sagen, dass Sie sich den Film auch ansehen müssen, auch, weil er überhaupt nichts über Teigdickenberechnungen, dafür aber sehr, sehr viel über die Einsamkeit der Liebe sagt und zeigt, und weiter muss ich das hellere Erkennen festhalten, geboren aus Kuchen und Leisten und Flucht und Liebe und auch den Axiomen, die irgendwo und irgendwie von einer berechnenden Kuchenesserin in die Welt gesetzt wurden und denen ich nun nicht mehr widerspreche:
1) der überhaupt stärkste Klebstoff einer Beziehung ist nicht „Liebe“, sondern Gewohnheit, unterbaut vom Unvermögen, das Alleinsein sein formendes Werk tun zu lassen.
2) eine durchschnittliche Beziehung dauert um die sechs Jahre, mal deutlich kürzer, weil sie so langweilig wird, mal doppelt so lang, weil die geborenen Kinder oder die Intensität eines anderweitigen gemeinsamen Projektes schlicht kaschieren, wie ausgelutscht und routiniert alles geworden ist.
3) weder habe ich persönlich je etwas erlebt, was länger gehalten hätte, noch kann ich mir wirklich vorstellen, dass sich nicht nach und nach aus dem zuerst dünnen Belag von Raureif eine Eisschicht bildet, da zwischen Herz und Herz, die den starken Impuls setzt, ‚rauszuwollen, ‚rauszumüssen – weil der Schmerz des Aufbruches und der Reorganisation jedem Schmerz vorzuziehen ist, der aus Lethargie und Langeweile besteht.

Ein Freund hat vor langem zu mir und über mich gesagt:
„Du bist zum Glücklichsein nicht geboren“
Kann sein, dass er Recht hat.
Kann sein, dass meine Definition von Glück aber auch nur anders ist und den subtilen Unterton eines bei mir konstatierten Mangels im Gesagten nicht verdient; nicht jedem sind die Vorfahren die idealen Orientierungssubjekte für die „richtige“ Art gelebten Glücks gewesen (und nicht ohne Vorgeschichte ersticken Menschen in den Armen, die sie angeblich liebend halten), und bisher habe ich nicht nur tausend Wege zum Unglück, sondern ebenso mannigfaltige Wege angetroffen, sich Glück auf eigene Weise und selbst geschaffen, nach eigenem Gusto, zu gestalten.
Der Stand der Dinge. Der Abschied von weiteren Illusionen.
Mir ist jeder Moment der Ekstase, jeder unerwartete Blitz am Nachthimmel, jeder erste Kuss und die prickelnde Spannung, ob es das jemals noch für mich geben wird, zig-fach lieber, als Menschen, deren Geiz dem Leben gegenüber mir Zug um Zug Fesseln anlegt, wie Kabelbinder an das Handgelenk.

Boot Camp

das Leben ist kein Spiel, denke ich vom ersten Moment der Abreise an, aus dem pausenlosen kalten Regen bis Freiburg und dort auf einen Mini-Platz, auf dem sehr viele tätowierte Menschen („Chantal for ever“) viel Bier trinken und viele, viele Pommes frites essen.
Ab in die Altstadt, ab in die Schminke der Touristenstadt, die uns die Zivilisation vorspielt, von der uns wenige Hundert Kilometer trennen.
Wie immer wird aus der langweiligen Schweiz plötzlich Italien und die Sonne kommt zum Vorschein, wie immer bezahlt man Unsummen an die Telekom und an ihr italienisches Pendant, um nirgendwo Empfang zu haben.

Es ist nicht das erste Mal in meinem Leben, dass ich Grenzen erweitern wollte, meinen Erlebnishorizont bereichern wollte, Neues entdecken wollte, auf den Spuren der Altvorderen wandelnd, den Ursprung finden wollte.
Und ich lande auf einem Campingplatz. Hat 5 Sterne, was mich erstarren lässt bei der Überlegung, wie wohl 2-3 Sterne aussehen könnten. Aqua non potabile?

Irgendwo zwischen der wundervollen Schweizer Seite des Lago Maggiore und dem Ende der Welt bewohne ich ein aus wenig reissfestem Kunststoff bestehendes schwabbeliges haushohes Zelt, in dem ich mich bewege, wie ein Raumfahrer in der Schwerelosigkeit – allein: es gibt nirgendwo Griffe oder Haltestangen oder Seile, die mir die Illusion geben könnten, dies hier sei wirklich.
Innen sind so um die 45 Grad Celsius (gefühlte Temperatur), aussen nachts weniger, tags mehr. Pfiffig.
Ab und zu falle ich einfach um, was sehr gesellig ist, weil man dabei oft in einem Nachbarzelt landet und mit vielen fremden Leuten in Kontakt kommt, die zwar eine andere Sprache sprechen, aber ebenso abartig riechen, wie man selbst.

Ich habe leichte Sommerkleidung dabei (französische Wirkware, La Coste, Prada, Nadelstreifenshorts, alles ganz unprätentiös), und bin innerhalb weniger Tage zur Attraktion des Platzes geworden, weil viele Kinder bei meinem Anblick kreischen und von ihren superfetten Müttern wissen wollen, woher das fremde Wesen komme; ab morgen nehme ich Eintritt, kriege aber tagsüber einen eigenen Käfig.

Die Nächte sind lau und lehrreich.
Empörung dort, wo der 2-Meter-Sat-Fernseher keinen Empfang kriegt, gute Laune da, wo nach dem 12. Bier schnaufende Männer sich neben mich an die Pissoirs stellen und irgendwas treffen, meistens mich.
Wenn ich dann wieder liege und so zum Klang nebenan kopulierender Zeitgenossen merke, dass mir schon wieder eine gemeine rotköpfige Ameise in den Hintern zu kriechen versucht, wimmere ich mich in Träume von richtigen Hotels, mit Bad und WC und geruchsfreien Socken. Um 3 Uhr fällt das LED-Licht ultraplötzlich komplett aus; ich lerne beten, weiss genau, ich habe Ersatzbatterien, die ich natürlich ohne Licht nicht finde…

Reihum haben alle mittelschwere grippale Infekte und schauen mich hustend treuherzig an, bis ich die letzten Kontingente Codein ‚rausrücke. Natürlich werden die Betroffenen erst behandelt, nachdem sie drei Tage Zeit hatten, alle anderen anzustecken, schließlich habe ich Medizin studiert, um mich von Oberlehrer-Homöopathen belehren zu lassen; nachts Träume von einer heißgelaufenen Uzi, das kann aber auch daran liegen, dass zwischen der Schwabbel-Luftbett-Oberseite und dem Grasboden nur wenige Zentimeter verbleiben, morgens. Alte Regel: altes Gummi hat oft Löcher (gilt nicht nur beim Camping).
(Bildet sich da ein kleiner Dekubitus am Steiß?)
Tauchschule? Niente – und mit verschwollenem Nasenrachengängen nehme ich niemand mit in die Trommefellblutung.

Irgendwo in mir, tief noch, aber sich abzeichnend, reift ein Entschluss.
Ich werde in diesem Leben nicht eher wieder einen Campingplatz betreten, bis ich den Grundlehrgang US-amerikanischer Resozialisierungs-Camps erfolgreich absolviert habe.
Wer das schafft, der sollte auch hier all die Mannigfaltigkeit des Lebens, alle am Arm zu tragenden Bezahlkettchen, Lätzchen, Windeln, Bindegewebsrisse, Bauchnabelhanteln, etc verarbeiten können, gestählt von diesem durch nichts mehr zu toppende deutsche Spiessigkeit, gegen den sich ein wirklich großer und bunter Gartenzwerg ausnehmen würde, wie ein avantgardistisches Monument.
Kann dennn Ekel schmerzhaft sein?
Er kann, ebenso, wie diese hyperbreitbereiften Geländewagen, Männer mit weissblonden Strähnchen in der Matte und Frauen mit vereiterten Aus-und Eintrittsstellen ihrer Gesichtspiercings.

Niemand will ich etwas Böses nachsagen, der so leben möchte! Nota bene: ich habe auch Väter gesehen, die mit solch aufrichtiger Liebe ihre kleinsten Jungen und Mädchen umsorgt und mit ihnen liebevoll getobt haben, dass sanfter Neid bei mir, der das nie gekannt hat, aufkam. Verstehen Sie, dass solchen Männern mein Respekt gehört? Die ein schweres und eher ödes Arbeitsleben gerne auf sich nehmen, um die Familie satt und glücklich zu machen, die Kleinen. Der Mann, der mit Gummiente und bekleckert vom Eis den Kleinen die Eimerchen und Schaufeln trägt, saudumme Trickfilme mitansieht, weil seine Kinder lachen, der wird mich adeln durch seinen Händedruck, der darf mich duzen; ich habe nie Respektlosigkeit von solchen Menschen erlebt.

Einmal habe ich fast geweint: da hat eine Frau die Plastikplane vor ihrem Zelt (mit Lichterkette) gefegt.
Gefegt. Mit einem Besen. Ganz bedächtig. Und das Zelt sah drinnen aus, wie eine Müllkippe.
Das macht einen stolz, Deutscher zu sein.

Nachtrag, am nächsten Tag: seit vierzehn Stunden sitze ich, sehr kurz zum Abbruch des Urlaubes entschlossen, in einer endlosen Kette von verspäteten Zügen, die mich nach Hause bringen sollen.
Ich habe gelernt, dass ich jede Form ununterbrochenen Kontaktzwanges unerträglich finde und Menschen, die wenig Gespür dafür haben, wann ich weder Entertainer sein will, noch kostenloser ärztlicher Berater, nicht belehrt werden will und mich nicht verbrüdern möchte, einfach meinen Platz im Schatten haben will, an dem ich mir keine Geschichten anhören will, auch keine schlüpfrigen, schlicht unverschämt finde.
Jeder Mensch braucht seine Fluchtdistanz, und ob meine 50 cm oder 3 Meter beträgt, das weiss ich nicht; sicher ist sie nicht besonders groß und sicher hat sie ihre Tücken und Lücken.
Aber die distanzarme Mischung aus heiserem Husten, wabbeligen Luftbetten, feuchten Gerüchen und subtilen Rangordnungskämpfen, die Tiefergehendes verbergen, die eskalieren eben bis zu Kurzschlusshandlungen.
Und wenn, andersherum, ein jeder Gruppenplanung implizites Gemeinschaftserlebnis dadurch verunmöglicht wird, dass mal der eine aus Lustlosigkeit dann doch nicht mitmacht, meistens aber ein anderer (ich) ganz ostentativ gezwungen wird, sportliche Aktivitäten (z. B. Bergwanderungen) entweder mitzumachen (Bergführer ist Pflicht, untrainierte und in Anbetracht diverser schwerer, aber tapfer und erfolgreich bewältigter Erkrankungen nun doch etwas lädierte Herren sind eine Behinderung, „Entschleuniger“) oder tagelang allein herumzusitzen, dann ist kein Schelm, dem Böses dabei schwant.
Der Vorhang fällt; allein sein kann ich auch allein, und vorzuführen, wie aus einer Verletzung auf glitschigem Geröll u. U. ein kleines Drama werden kann, dafür bin ich mir zu schade.

liebend gerne sanft

Gab es das nicht: Eine aufrechte Liebe zwischen zwei Menschen, zwischen Mann und Frau, die beide satt und glücklich machen konnte? Besseres aus beiden machte, als jeder Einzelkämpfer sein könnte? Musste alles zersetzt werden mit Phrasen saturierter Autonomie-Gurus, wiedergekäut von Möchtegern-Selbstverwirklichern, die lebenslang in ihrem geistigen Armenhaus vegetierten; instinktsicher verhurt, wo es sich lohnte – moralinsauer, wo die Weiden abgegrast waren? War der Wunsch nach wenigstens zeitweiliger Verschmelzung ein Sakrileg und die Verlogenheit unabdingbare Tugend?
Patrick erkannte: Alles war gesagt, nichts galt mehr. Es gab keine Sicherheit, es gab keine Gerechtigkeit. Mal traf es ihn, mal andere; solange er sich das Leben schwer machte, hatten es andere leicht, die Wahrheit von heute kostete morgen den Verstand.

im Namen der Rosen

sie hat sich vor Tagen geduldig meine Fragen, Ideen und Änderungswünsche hinsichtlich bereits geänderter Änderungen angehört, Faxe versendet, Nachfragen getätigt, Kollegen versammelt, alles mit dem Lächeln einer jungen Mutter, die ihrem Ältesten erklärt, dass Telefonieren auch Geld kostet, wenn man es „Flatrate“ nennt und was ein Gigabyte ist.
Als ihre Kollegen schon rechtzeitig in die hinteren Räumlichkeiten flohen, wenn sie mich in den Telekom-Shop eintreten sahen, ist sie stoisch geblieben am Tresen (Gesichtsausdruck: ich weiß schon, Du hast wieder irgendwo herumgefummelt und zu Hause gibt es jetzt kein Telefon mehr – aber ich lasse dich nicht hängen; nun sag‘ mal, auf welches Knöpfchen Du zuerst gedrückt hast).
Voice-over-IP läuft, die gewünschten Rufumleitungen sind eingestellt, ich kann bei Bedarf (die Single-Welt der Zukunft) über zur Zeit drei Rufnummern Selbstgespräche führen und mein iPhone dazuschalten, ich kann SMS an mein Festnetztelefon senden und mir vom Apparat vorlesen lassen, DSL 16.000 surrt.
Und als ich sie soeben an ihrem Counter sah, habe ich rasch eine Rose gekauft und ihr mitten im Laden mit Dank für ihren Service überreicht.
Und ihr professionelles Lächeln wich schlagartig einer flüchtigen Röte, draußen riss die Wolkendecke auf, und in einem kurzen Moment strahlten ihre Augen und ihr Gesicht und sie war einfach eine junge und sehr überraschte Frau.
Solange ich das noch schaffe, eine junge Schönheit erröten zu lassen – even though she is not the Lady in my shield -, ist meine kleine naive Romantikerwelt noch in Ordnung und ich merke das Glück darüber, ein Mann zu sein.

„Dear darling, please excuse my writing.
I can’t stop my hands from shaking
Beause I’m cold and alone tonight.

I miss you and nothing hurts like no you.
And no one understands what we went through.
It was short. It was sweet. We tried.

And if my words break through the wall
And meet you at your door,
All I can say is “Girl, I mean them all“

(Olly Murs, „Dear Darling“)

Jesus liebt mich

am Wochenende zwei Mal diese seltsame Komödie gesehen, etwas Training, überreichlich vorwurfsvolle Diskussionen um mich und mein Beziehungsleben geführt, ein 120-Minuten-Steak bestellt (40 min bis zur Möglichkeit, zu bestellen, 40 min, bis das Essen auf dem Tisch stand, 10 min essen, 30 min bis zur Möglichkeit, mich abkassieren zu lassen), in der Schwüle gelegen, später notfallmässige Begleitung eine Dame, die mit irrsinniger Sonderlingsattitüde, aber vergeblich, an die Wirksamkeit von Blutgruppendiät und Beerensäften bei blutenden und übertragbaren Entzündungen des Urogenitaltraktes glaubt, zur Apotheke begleitet, vor der ein Rudel türkischer Kappenträger randalierte (möglicherweise, weil in den Freitag gekauften Hunderterpackungen Präservative nur 99 Stück waren, was einem ja auch wirklich das Wochenende versauen kann), brav den Migranten die Tür aufgehalten, weil man ja doch irgendwie am Leben hängt, den Apotheker reich entlohnt, die Dame entlassen, Wäsche und Haushalt bis zum Umfallen gemacht, Pasta zubereitet und vor dem Film mit dem passenden Titel „Der Gott des Gemetzels“ in Tiefschlaf gefallen.
Regen klatscht an die Scheiben.
Langsam, aber entschlossen hole ich Plan B für die kommenden Wochen aus dem verborgenen Ordner meines geübten Hirns und visualisiere mich allein, aber an sonniger See sitzend, gewohnt komfortabel untergebracht, umgeben von den Scherben der Glashäuser, aus denen mit Steinen auf mich geworfen wurde.

In any other world
You could tell the difference
And let it all unfurl
Into broken remnants

I tried to live alone
But lonely is so lonely, alone
So human as I am
I had to give up my defences

Smile like you mean it
And let yourself let go

Because it’s all in the hands of a bitter, bitter man
Say goodbye to the world you thought you lived in
Take a bow, play the part of a lonely lonely heart
Say goodbye to the world you thought you lived in
To the world you thought you lived in

(MIKA, „Any Other World„)